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Andreas und Michael Raelert: Unter Brüdern

27. Juli 2019



Andreas und Michael Raelert wollten eigentlich nie gegeneinander antreten. Die einzige Ausnahme für diese Regel: Der Ironman auf Hawaii. Am Sonntag brechen sie jedoch mit ihrem Schwur und stehen gemeinsam beim Ironman Hamburg an der Startlinie. Die beiden Brüder aus Rostock haben jahrelang den Triathlon nicht nur in Deutschland, sondern weltweit geprägt.

Die Rollenverteilung ist klassisch: Andreas, als großer Bruder, ist der ruhigere Vernunftmensch. Michael, als kleiner Bruder, ist der wildere Kopfmensch. Auch wegen ihrer Art und ihrem öffentlichen Auftreten sind die Raelert-Brüder Publikumslieblinge. Gepaart mit ihren herausragenden sportlichen Leistungen, haben sich die beiden einen festen Platz im Herzen der Fans gesichert. Sowohl Andi, als auch Michi wurden zu absoluten Aushängeschildern und Vorbildern des Triathlonsports.

Andi hat Understatement im Triathlon salonfähig gemacht.

In den Jahren zwischen 2009 und 2013 wartete die ganze Triathlonwelt darauf, dass Andi endlich den Ironman Hawaii gewinnt. Oktober für Oktober glaubten alle fest an einen Sieg des Rostockers, der mit stoischer Ruhe immer und immer wieder seine gleiche Floskel ins Mikrofon der Reporter betete: „Es stehen noch 50 andere Profis am Start, alle wollen dieses Rennen gewinnen, alle anderen sind auch topfit, alle haben Chancen auf den Sieg, am Ende wird der Beste gewinnen.“ Und damit überraschte er. Denn aus den Jahren zuvor war man die Kleinkriege zwischen Faris Al-Sultan, Normann Stadler und Chris McCormack gewohnt – die Größten ihrer Zeit, sportlich und verbal. Mit Andi kam eine neue Ära – und was für eine.

Nach dem 12. Platz bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000 und einem 6. Platz bei den Spielen 2004 in Athen, scheitert er 2008 an der Quali für seine dritte Olympia-Teilnahme. Als hätte er es kommen sehen, hatte er bereits im Frühjahr 2008 einen ersten Ausflug auf die Langdistanz gewagt: Sein Debüt beim Ironman Arizona gewinnt er in beeindruckender Manier. Das ist bereits der Moment, in dem sein Ruf beginnt ihm vorauszueilen und die Experten der Szene sich sicher sind:

Andi Raelert wird der neue Star auf der Langdistanz.

Und sie sollten Recht behalten. Andi wird seinem Ruf gerecht und entwickelt sich von Rennen zu Rennen weiter. 2009 wird er Vierter beim Ironman in Frankfurt und bei seiner Premiere auf Hawaii klettert er prompt als Dritter auf das Podest der Ironman-Weltmeisterschaft. Dann, ein Jahr später, stürmt er in Frankfurt zum Sieg, spätestens jetzt scheint der Sieg auf Hawaii nur noch Formsache zu sein. So zumindest die erdrückende Erwartungshaltung von Medien und Fans. Aber tatsächlich: Lange Zeit scheint es so, als habe Andi bereits eine Hand am Weltmeistertitel, als er sich auf der Laufstrecke ein episches Battle mit dem Australier Chris McCormack leistet. Schulter an Schulter rennen die beiden über den Queen K-Highway zurück nach Kailua-Kona. Am Ende zwingt McCormack Andi mit einer taktischen und psychischen Meisterleistung in die Knie.

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Dann eben nächstes Jahr. Weiterhin glauben alle an den Sieg von Andi auf Hawaii. Und jeder wünscht es ihm.

Eine neue Zeitrechnung beginnt

Und dann kommt der Challenge Roth 2011. Ein Tag, an dem eine neue Zeitrechnung beginnt. Andi stellt in 7:41:33 Stunden eine neue Weltbestzeit über 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen auf. Nun gibt es keine Zweifel mehr: Nach dem dritten und dem zweiten Platz auf Hawaii, wird er dieses Mal gewinnen!

Um den Slot für die Ironman-WM fix zu machen, braucht er aber noch ein Finish bei einer offiziellen Ironman-Veranstaltung. Zwar nimmt er es beim Ironman Regensburg locker, kombiniert das Rennen mit einer Charityaktion, aber das Rennen hinterlässt trotzdem seine Spuren. Vor allem, weil ihn schon vor dem Rennen Verletzungssorgen plagen. All das scheint aber keinen Einfluss auf die Erwartungen zu haben, denn an dem vermeidlich bevorstehenden Hawaii-Sieg zweifelt niemand.

Im Oktober 2011 steht Andi bei seinem dritten Start auf Hawaii zum dritten Mal auf dem Podium, er wird Dritter. Dann kommt es, wie es kommen musste: Selbst ein dritter Platz auf Big Island ist nicht mehr gut genug, um die Öffentlichkeit zufrieden zu stellen: Ihm fehle der Killerinstinkt und der Mut, um im Rennen etwas zu riskieren, rufen plötzlich all die Leute, die es meinen besser zu wissen. Als wäre es ein Kinderspiel den Ironman Hawaii zu gewinnen. Wie unbändig der Wille von Andi nämlich ist, zeigt er im Sommer 2012: Er stürzt beim Ironman Frankfurt mit Rad, beendet das Rennen, trotz Gehirnerschütterung, dennoch auf Platz vier. Damit löst er auch das Ticket für den vierten Anlauf auf die Kona-Krone.

Totgesagte leben länger

Im Oktober 2012 ist es ruhiger um Andi als sonst. Die Erwartungshaltung ist nicht so erdrückend und zermürbend, auch in Interviews macht er einen ruhigeren und entspannteren Eindruck, als in den Jahren zuvor. Vielleicht auch, weil dieses Rennen auf Hawaii mittlerweile nicht mehr ein unbekannter Mythos, sondern eher ein guter Bekannter geworden ist: Andi und Kona, das passt, auch 2012. Zum zweiten Mal sichert er sich die Silbermedaille, zu dieser Zeit ist er der deutsche leuchtendste Stern am Triathlonhimmel.

2013 wird zum Schicksalsjahr: Zwar gewinnt Andi im Sommer noch den Ironman Klagenfurt, verletzt sich aber gleichzeitig und muss zum ersten Mal in seiner Langdistanz-Karriere einen augenscheinlichen Rückschlag in Kauf nehmen. Auf Hawaii muss er das Rennen vorzeitig beenden, DNF. Nach vier erfolgreichen Jahren auf Big Island versetzt ihm die Insel den ersten Seitenhieb. Und auch der nächste Ironman, Frankfurt im Sommer 2014, endet mit einem DNF. Die Quali für die Ironman-WM auf Hawaii holt Andi sich in letzter Minute mit einem dritten Platz beim Ironman Mont-Tremblant in Kanada. All diejenigen, die ihm noch vor einigen Jahren den Hawaii-Sieg prophezeit hatten, sagen nun: Das ist nicht der Andi Raelert, der es einmal war. Und auch das Rennen auf Hawaii läuft wieder schief, mit Magenproblemen kämpft sich Andi über die Laufstrecke, wird am Ende 769. und muss nun mit dem nächsten Rückschlag umgehen.

Der frühe Saisonstart 2015 beim Ironman Texas verkommt zum nächsten DNF. Vieles läuft nicht so, wie es laufen soll. Und auch der 6. Platz beim Ironman Frankfurt passt nicht in die Reihe der herausragenden sportlichen Vita von Andi Raelert. Die Stimmung im Sinne von „der hat seine beste Zeit hinter sich“ macht sich in der Szene breit und eigentlich rechnet keiner mehr mit einem besonderen Rennen von Andi. Es grenzt zwar an Majestätsbeleidigung, aber es zeigt eben auch wie schnelllebig das Geschäft im Profisport ist. Im Oktober 2015 blickt die Triathlonwelt vor allem auf Jan Frodeno, fast keiner schielt mehr auf Andi. Zu unrecht. In einem phänomenalen Rennen kämpft sich Andi dorthin zurück, wo er hingehört:

Auf das Podium der Ironman Weltmeisterschaft. Zum fünften Mal steht er nun dort, zum dritten Mal als Ironman Vize-Weltmeister.

Eigentlich hat Andi mit seinen 42 Jahren alles erreicht, was es im Langdistanz-Triathlon zu erreichen gibt. Nur Weltmeister war er nie. Das hat sein kleiner Bruder Michi ihm voraus.

Michael Raelert hinterlässt seine eigenen Spuren

Das klingt schon alles unfassbar beeindruckend. Und es ist naheliegend, dass man sich die Frage nach den großen Fußstapfen stellt, in die es für den jüngeren Bruder Michi zu steigen gilt. Aber im Falle der Raelert-Brüder ist es eine überflüssige Frage, denn beide hinterlassen ihre eigenen Spuren. Aus sportlicher Sicht steht Michi seinem größerem Bruder in Nichts nach. Im Gegenteil, er dominiert die Ironman 70.3-Distanz jahrelang. Er gewinnt die Rennen, bei denen er startet, nach Belieben. Aber er gewinnt sie nicht einfach nur, er deklassiert seine Konkurrenz, Mal für Mal. Insgesamt 18 Siege über die halbe Ironman-Strecke hat er auf der Habenseite, davon zwei Welt- und drei Europameistertitel. Was ihm auf der Mitteldistanz gelingt, bleibt ihm allerdings auf der Langdistanz verwehrt.

Michi ist im Rennen ein Hitzkopf, lässt sich von Emotionen leiten und sucht sein Heil eigentlich immer in der Flucht nach vorne.

Dieses Erfolgsrezept funktioniert allerdings im Ironman nicht. Mit seiner stürmischen Renngestaltung stößt er an seine Grenzen und konnte mit den 226 Wettkampf-Kilometern bisher noch nicht seinen Frieden finden. Der 2. Platz beim Ironman Regensburg im Jahr 2012 mag vielleicht ein Achtungserfolg sein, aber natürlich lange nicht das, womit ein Michael Raelert zufrieden sein könnte.

Der Durchbruch auf der Langdistanz will ihm bis heute nicht gelingen. Immer wieder wirkt es so, als würde sich Michi vor allem selbst im Wege stehen, wenn er einen neuen Anlauf startet, um es auch im Ironman allen zu beweisen, dass er es drauf hat. Dennoch scheint es, als würde Michi sich mit diesem Thema auseinander setzen:

Seit einigen Monaten wird er von Triathloncoach Brett Sutton trainiert. Sutton ist allerdings mehr als ein Trainer, er ist ein Guru.

Eine Zusammenarbeit mit ihm besteht nicht nur aus Schwimmen, Radfahren und Laufen. Sondern aus Lektionen, die den Athleten an einen Punkt bringen sollen, an dem sie verstehen, wie sie erfolgreich sein können. Mag sein, dass Michi Raelert mit seinen bald 39 Jahren nicht mehr zu den jüngsten Triathleten gehört, aber vielleicht macht ihn gerade das jetzt im Herbst seiner Karriere nochmal so unberechenbar.

Eine lange und erfolgreiche Geschichte liegt hinter den Raelert-Brüdern. Aber sie wirkt unvollkommen, fast so als sei das letzte Kapitel noch nicht geschrieben.

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